Urteilsverkündung des Supreme Court im Fall Assange

Übersetzung der Abschrift der Urteilsverkündung des Supreme Court des Vereinigten Königreiches im Fall Julian Assange gegen die schwedische Staatsanwaltschaft vom 30. Mai 2012. Das vollständige Urteil und eine Pressemitteilung sind auf der Website des Supreme Court erhältlich.

Original (en): Video & Abschrift

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Präsident des UK Supreme Court, Lord Nicholas Phillips:
Der schwedische Staatsanwalt hat um Auslieferung von Herrn Assange, angeklagt schwerer Sexualdelikte, ersucht. [Hinweis: Es liegt keinerlei Anklage gegen Herrn Assange vor, auf diesbezüglichen Hinweis von Dinah Rose hin korrigierte der Supreme Court diese Aussage am 14. Juni 2012]. Dieses Ersuchen wirft eine Rechtsfrage von allgemeinem öffentlichem Interesse auf. Dies ist keine Frage, bezüglich derer die Umstände von Herrn Assanges Fall relevant sind, dieses Urteil bezieht sich allein auf eben diese Rechtsfrage.

In der Vergangenheit verhielt es sich so, dass dieses Land eine Person erst nach Prüfung der Beweislage durch ein hiesiges Gericht an ein anderes europäisches Land auslieferte. Das Gericht gab einer Auslieferung nur dann statt, wenn die Beweislage ein Strafverfahren rechtfertigte. All dies änderte sich im Jahr 2001, in dem die ‘European Convention on Extradition’ von 1957 Anwendung fand. In dem darauffolgenden Jahr wurden diese Vorschriften durch ein Abkommen zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ersetzt. Die Bestimmungen dieses Abkommens wurden unter einem EU-Rahmenbeschluss aufgestellt, der diesem Land die Verpflichtung zu deren Implementierung auferlegte. Der Rahmenbeschluss legte fest, dass, wenn eine ‘judicial authority’ [gerichtliche Instanz] eines Landes um Auslieferung einer Person aus einem anderen Land ersucht, letzteres diesem Ersuchen ohne Prüfung der Beweislage nachkommen muss. Es war damit an dem ersuchenden Land, zu entscheiden, ob die Beweislage eine Auslieferung rechtfertigt.

Das Vereinigte Königreich setzte den Rahmenbeschluss im Auslieferungsgesetz von 2003 um. Dieses Gesetz legt fest, dass unter bestimmten Bedingungen dieses unseres Land eine Person dann ausliefert, wenn wir ein Ersuchen einer gerichtliche Instanz eines anderen Mitgliedsstaates erhalten. Die vorliegende Rechtsfrage ist schlicht die, was die Worte ‘judicial authority’ bezeichnen.

Herr Assange argumentierte, diese würde ein Gericht oder einen Richter bezeichnen. Schwedens Ersuchen wurde von einem Staatsanwalt ausgestellt, der weder Gericht noch Richter ist, demnach ist es die Auffassung von Herrn Assange, dass das Ersuchen ungültig sei, er also nicht nach Schweden zurückkehren müsse. Die Rechtsfrage ist zwar leicht zu umreißen, es gestaltete sich jedoch als alles andere als einfach, diese zu beantworten. So gelangten wir lediglich mit einer Mehrheit von fünf zu zwei zu einer Entscheidung.

Im Zuge der Parlamentsdebatte um den Entwurf für das Auslieferungsgesetz gab es Diskussionen über den Begriff der ‘judicial authority’. Das Gesetz verwendete den Begriff ‘judicial authority’, da dies die Worte sind, die in dem Rahmenbeschluss verwendet wurden, und das Gesetz diente der Umsetzung eben dieses Rahmenbeschlusses. Offensichtlich nahmen einige Parlamentsmitglieder an, die Worte ‘judicial authority’ in dem Rahmenbeschluss bezeichneten ein Gericht oder einen Richter. Tatsächlich hat ein Minister dem Parlamentskommitee gegenüber explizit gesagt, dies sei der Fall. Hierbei irrte er.

‘Judicial authority’ ist die englische Übersetzung der französischen Worte ‘autorité judiciaire’. Der Rahmenbeschluss ist sowohl auf Englisch als auch auf Französisch verfasst, also ist es notwendig, auch die Bedeutung des französischen Begriffs heranzuziehen. Die Bedeutung des französischen Begriffs ist weiter gefasst als die des englischen. Im Französischen können die Worte ‘judicial authority’ auch einen Staatsanwalt bezeichnen. Viele Mitgliedsstaaten haben bei der Implementierung des Rahmenbeschlusses Staatsanwälte eingesetzt, die Rolle der ‘judicial authority’ zu erfüllen. Es gab keinen Anhaltspunkt dafür, dass dies im Widerspruch zu dem Rahmenbeschluss steht.
Insbesondere angesichts dieser Tatsache ist die Mehrheit der Geschworenen darin übereingekommen ist, die in dem Rahmenbeschluss verwendeten Worte ‘judicial authority’ oder ‘autorité judiciaire’ schlössen in ihrer Bedeutung einen Staatsanwalt ein. Zwei der Geschworenen, Lady Hale und Lord Mance, sind der Meinung, dies bestimme nicht die Bedeutung von ‘judicial authority’ in dem Auslieferungsgesetz, in diesem Gesetz bedeute dies ‘Gericht’ oder ‘Richter’.

Die übrigen Geschworenen stimmen dem nicht zu. Die Intention des Parlaments bei der Verabschiedung sei es gewesen, den Rahmenbeschluss umzusetzen. Dies sei nötig gewesen, um ein einheitliches und kohärentes Auslieferungssystem in Europa zu gewährleisten. Dies sei auch notwendig gewesen, um den Verpflichtungen des Vereinigten Königreiches unter internationalem Recht zu entsprechen. Daher die Annahme, die Worte ‘judicial authority’ sollten in dem Auslieferungsgesetz die gleiche Bedeutung haben wie in dem Rahmenbeschluss. Die Ansicht einiger Parlamentsmitglieder oder die Äußerung des Ministers hinsichtlich der Bedeutung des Rahmenbeschlusses täten dieser Annahme keinen Abbruch.

Aus diesen Gründen ist die Mehrheit zu dem Schluss gekommen, der schwedische Staatsanwalt sei eine ‘judicial authority’ gemäß der Bedeutung sowohl des Rahmenbeschlusses als auch des Auslieferungsgesetzes. Daraus folgt, dass das Ersuchen um Herrn Assanges Auslieferung auf rechtmäßigem Wege erfolgt ist, seinem Einspruch gegen die Auslieferung somit nicht stattgegeben wird.

Dinah Rose QC: Euer Ehren, ich verstehe dass Sie den Sachverhalt dargelegt haben, aber wir hatten eine Angelegenheit, die wir hervorbringen wollten. Sie werden verstehen, dass wir nur sehr begrenzt Gelegenheit hatten, uns mit dieser umfangreichen und gelehrsamen Entscheidung zu befassen, auch dass wir bisher keine Gelegenheit hatten, uns mit unserem Mandanten zu beraten.
Wie dem auch sei, da ist einen Punkt der uns nach erstmaliger Lektüre des Urteils beträchtlich zu Denken gibt, nämlich der, dass offenbar ein Großteil der Geschworenen ihre Entscheidung teils maßgeblich und teils vollständig auf Grundlage der Interpretation des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge gefällt haben. Ein Aspekt, der, mit Verlaub, nicht Gegenstand der Berufungsverhandlungen war und mit dem uns zu befassen wir keine Gelegenheit hatten.

Mit Sicherheit hat das Gericht sein Urteil im nicht lang zurückliegenden Fall Lukaszewski noch vor Augen, so auch die Entscheidung, dass Artikel 6 bei Auslieferungsverfahren in dem Vereinigten Königreich Anwendung findet. Demgemäß erwägen wir gegenwärtig, ob es nötig sein wird oder nicht — so sehr wir dies auch bedauern — den Antrag an dieses Gericht zu stellen, dieser Fall möge wiederaufgenommen werden, um uns gelegenheit zu geben, über diesen Aspekt verhandeln zu können. Ich sage dies nur, um Bescheid zu geben, denn selbstverständlich müssen wir zunächst das Urteil studieren und uns mit unserem Mandanten beraten. Ich erkenne die Dringlichkeit der Situation an, daher ist es mein Anliegen, dies hier so früh wie möglich öffentlich anzukündigen.

Lord Phillips: Ja, dank Ihnen, Frau Montgomery, Sie müssen berücksichtigen…

Rose QC: Ich bin formaljuristisch nicht Frau Montgomery, wenn auch leicht mit ihr zu verwechseln.

Lord Phillips: Frau Rose, ich bitte um Verzeihung. Sie sollen das Urteil in aller Ruhe prüfen; und wenn Sie es wünschen einen Antrag zu stellen, dann werden wir Ihnen die Möglichkeit geben, dies zu tun.

Rose QC: Ja. Mir ist unklar, wie viel Zeit Euer Ehren bereit wäre, uns zu gewähren, um diesen Antrag zu stellen. Wir arbeiten angesichts des bevorstehenden Feiertagswochenendes unter etwas erschwerten Bedingungen.

Lord Phillips: Wir werden Ihnen zwei Wochen gewähren.

Rose QC: Euer Ehren — unter diesen Umständen — wie ich es verstehe, so ist es die Übereinkunft in dem Beschluss, dass dieser Beschluss nach sieben Tagen Aufschub in Kraft treten soll. Angesichts des eben von mir hervorgebrachten Anliegens möchte ich Euer Ehren bitten, diesen Beschluss dahingehend abzuändern, dass 14 Tage Aufschub gewährt werden, um es uns zu ermöglichen, diesen Antrag zu stellen.

Lord Phillips: Dies erscheint mir als eine angemessene Bitte, wir werden die Frist entsprechend verlängern.

Rose QC: Ich bin dankbar.

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